Der „vertikale Innenverteidiger“ ist meiner Meinung nach eine logische Weiterentwicklung des spielenden Innenverteidigers im modernen Fußball. Bei all der Betonung der Vertikalität wird dem vertikalen Innenverteidiger noch wenig Aufmerksamkeit zuteil. Das liegt aber sicher auch daran, dass er ein (immer noch) seltenes Exemplar ist.
Die Taktikexperten von Spielverlagerung.de haben den Begriff vertikalen Innenverteidiger bei ihrer Analyse des Spiels Ajax gegen Alkmaar kurz erwähnt aber das Konzept nicht weiter verfolgt. Bei Ballesterer.at aus Österreich ist von Jan Vertonghen von Ajax Amsterdam zu lesen, der immer wieder gefährlich nach vorne stößt.
Es scheint nicht verwunderlich, dass eine solche Spielweise zuerst im Heimatland des Totaalvoetbal auffällt, der sich ja entscheidend durch mutige und (scheinbar) intuitive Positionswechsel und Läufe auszeichnete. Hat also Ajax hier wieder einmal ein neues taktisches Konzept entwickelt?
Thomas Vermaelen – der Prototyp des vertikalen Innenverteidigers
Mir ist als vertikaler, angreifender Innenverteidiger immer wieder ein Spieler aufgefallen, der ebenfalls in den Niederlanden bei Ajax Amsterdam gespielt hat: der Belgier Thomas Vermaelen vom FC Arsenal London. In den wenigen Champions League-Spielen, in denen ich ihn in den letzten 3 Jahren sehen konnte, lieferte er immer wieder den Ball im Spielaufbau ab, um dann aus der Viererkette heraus nach vorne durchzulaufen. Mir war erst gar nicht klar, dass der Arsenal-Kapitän da etwas Außergewöhnliches oder zumindest Unübliches macht. Und es scheint kein Zufall zu sein. Häufig gehen seine Läufe bis vor den gegnerischen Strafraum, wo man Innenverteidiger im Normalfall eher selten findet. Auch mit situativ eingestreuten, überraschenden Dribblings aus der Viererkette bereichert der Belgier das Offensivspiel des FC Arsenal.
Hier einige Youtube-Videos von Thomas Vermaelen:
Ein Spiegel-Bericht über den belgischen Innenverteidiger am Anfang seiner Karriere
Verhalten des vertikalen Innenverteidigers
Der vertikale Innenverteidiger am Beispiel Vermaelen zeichnet sich dadurch aus, dass er im Spiel situativ im Zentrum bzw. auf der Halbposition mit in die Offensive geht. Dabei kann er je nach Entwicklung der Spielsituation im Spielaufbau entscheiden, ob er vor oder hinter dem Ball spielt. So kann er beispielsweise nur das Mittelfeld im Spiel nach vorne unterstützen oder auch bis ins Angriffszentrum bzw. vor den gegnerischen Strafraum vorstoßen.
Insofern ist er, wenn er immer wieder auch vor dem Ball agiert, eine logische Weiterentwicklung des spielenden Innenverteidigers, dem im Fußball zur Zeit höchste Bedeutung beigemessen wird. Repräsentiert wird letzterer in der Bundesliga von Spielern wie Mats Hummels und Holger Badstuber, international von Innenverteidigern wie Gerard Piqué oder Sergio Ramos.
Der spielende Innenverteidiger lenkt jedoch das Spiel hauptsächlich von hinten heraus, agiert als Anspielstation hinter dem Ball. Er beschränkt seine Vorstöße in den gegnerischen Strafraum meist auf Standardsituationen (Sondersituationen wie Rückstand kurz vor Schluss etc. ausgenommen). Das heißt, er agiert als Innenverteidiger lediglich spielaufbauend, nicht so sehr mitspielend.
Taktischer Nutzen im Offensivspiel
Für die eigene Mannschaft ergibt sich durch einen vertikalen Innenverteidiger, der immer wieder auch in vordere Reihen aufrückt, eine zusätzliche Anspielstation. Sie kann vom Gegner nicht so einfach zugedeckt werden, da es häufig Zuordnungsprobleme gibt, wenn ein Spieler seine Reihe verlässt. Der Druck auf das gegnerische Mittelfeld kann erhöht werden und der Gegner zu mehr Laufarbeit gezwungen werden. Denn, wo es bisher ausreichte, die Passoptionen für die Innenverteidiger zuzustellen, muss die Defensive nun auch so verteidigen, dass ein plötzliches Dribbling verteidigt werden kann.
Dazu kommt, dass man diese Anspielstation im Zentrum und nicht auf der Außenposition hat, was sicheres Kombinationsspiel im zentralen Raum begünstigt. Gerade gegen 1-Stürmer-Systeme wie das beliebte 4-2-3-1-System oder auch das 4-1-4-1 kann man auf den (zweiten) Innenverteidiger als Absicherung ohnehin verzichten, da mindestens eine 2-Mann- (bei Dreierkette) oder eine 3-Mann-Überzahl (bei Viererkette) besteht. Bliebe der Innenverteidiger in der Kette, wäre er regelrecht verschenkt, da er eine „unnötige“ Absicherung darstellte (siehe nächster Abschnitt).
Ich halte es für sehr gut vorstellbar, dass man damit ein taktisch eher unspektakuläres Spielsystem, etwa ein 4-4-2 mit flacher Vier um einige interessante taktische Varianten erweitern kann. Dies gilt insbesondere, wenn man mit seiner Doppelsechs im Zentrum in Unterzahl ist (gegen 4-2-3-1, 4-3-3 oder auch ein 4-1-4-1). Ein aus der Tiefe kommender Innenverteidiger kann sicherlich für großen Druck auf den gegnerischen Defensivverbund sorgen. Das gilt umso mehr, je mehr der Innenverteidiger im hohen Tempo durchläuft.
Die Grafik zeigt, wie eine solche Situation eingeleitet werden kann: über einen kurzen Ball ins Mittelfeld wird verlagert, der angespielte Innenverteidiger nimmt Tempo auf und sorgt so (abhängig vom Gegnerverhalten) für eine Überzahlsituation im Halbraum (durch entschlossenes Dribbling).
Kleinerer Innenverteidiger – größere Wendigkeit
Gegen Zwei-Stürmer-Systeme wie ein 4-4-2 mit flacher Vier eine Variante sein, die doppelt besetzten Außenbahnen im Angriff zu meiden, indem man die Außenverteidiger zurück- und nach Innen zieht. Dafür kann der aufrückende Innenverteidiger im Zentrum Überzahl schaffen, wobei durch die Außenverteidiger und den zweiten Innenverteidiger abgesichert wird.
Körperlich ist beispielsweise Thomas Vermaelen, unser Prototyp des vertikalen Innenverteidigers, mit seinen 1,80 m ein eher untypischer Innenverteidiger (Mats Hummels ist 1,92 m). Viel eher würde man ihn auf den ersten Blick für einen Außenverteidiger (was er auch immer wieder spielt) oder Sechser halten. Seine geringe Körpergröße kompensiert er in der Defensive durch eine enorme Sprungkraft und Durchsetzungsfähigkeit im Zweikampf (der tut richtig weh). Aber das muss auch so sein, sonst könnte er nicht zentral in der Viererkette spielen.
Andersherum gedacht ist aber die daraus resultierende größere Wendigkeit für seine Offensivaktionen von Vorteil. Es wird also in Zukunft möglicherweise immer mehr „kleine“ Innenverteidiger geben, die statt Größe und Masse eher Trickreichtum, Wendigkeit und Dribbelstärke mitbringen (neben ihrer defensive Zweikampfstärke).
Fazit: Der vertikale Innenverteidiger – eine wichtige Option für die Offensive
Gegen ballorientierte und mit Raumdeckung spielende Mannschaften, die idealerweise (nicht zwingend) noch dazu mit nur einer Spitze spielen, kann ein zusätzlicher Offensivspieler neue Optionen in der Offensive ermöglichen. Das gilt wenn man kurz darüber nachdenkt, insbesondere auch für Mannschaften, die nicht gleich vertikal nach vorne spielen, sondern die im Mitteldrittel zuerst einmal auf sicheren Ballbesitz setzen. Hier hilft der situativ aufrückende Innenverteidiger, in verschiedenen Räumen des Feldes Überzahl herzustellen. Voraussetzung ist aber eine gewisse Ballsicherheit bei der eigenen Mannschaft, sonst läuft man zu oft in Kontersituationen.
Ich denke, hier ist vor allem das überraschende situative Herauslösen aus der Kette ein wichtiges Element. Spielt der Verteidiger sowieso vor der Kette, handelt es sich eher um einen falschen Verteidiger (der eigentlich Sechser ist). Ich gehe hier aber davon aus, dass als Grundsystem in der Defensive eine klare Viererkette gespielt wird. Der Verzicht auf einen Innenverteidiger, wie etwa immer wieder von Barcelona praktiziert, ist eine deutlich andere Situation.
Will man den Spielertyp des vertikalen Innenverteidigers beschreiben, so sind es eher kleinere Spieler, die über ein großes technisches Potential und ein überzeugendes offensives 1 gegen 1-Verhalten verfügen. Das spricht dafür, dass auch nach hinten gezogene, umtrainierte defensive Mittelfeldspieler eine Quelle für solche Spieler sein könnten. Für Trainer kann es also, je nach Gegner, eine Option sein, neben einem „richtigen“ noch einen offensiveren, vertikalen Innenverteidiger einzusetzen.
Es bleibt abzuwarten ob sich, wie ich mir gut vorstellen könnte, mehr Innenverteidiger entwickeln, die eine solche Spielweise umsetzen können. Schaut man sich die Personalauswahl in den Leistungszentren an, dann wird es nach heutigem Stand ein schwieriger Weg, denn wer da als 15-jähriger nicht schon mindestens 1,85 m groß ist, spielt auf keinen Fall hinten im Zentrum (Ausnahmen bestätigen die Regel).
Dennoch wird es wohl auch „mutige“ Trainer geben, die die zusätzlichen taktischen Möglichkeiten einer solchen Aufstellung und Spielinterpretation für sich nutzen wollen. Es ist wie immer: haben sie damit Erfolg, wird der Rest nachziehen…
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